Damit kennzeichnet er ihre Stellung unter den Blumen, und den Eindruck, den sie auf das menschliche Gemüth ausübt. Daß diese wunderbare Blume mit ihrem so bestimmt ausgeprägten Charakter der Sage und dem Cultus der Völker verwebt wurde, ist eben so naturgemäß, wie wir es bei der Rose finden; sind doch beide eng verschwistert und als Blumenoberhäupter anerkannt; nur möchte man hier wie bei den Japanesen in ihnen einen Taikun und Micado — einen weltlichen und geistlichen Beherrscher unterscheiden. Beide Blumen sind der Mythe nach göttlichen Ursprungs, sind aber auch in ihrer Innerlichkeit so verschieden, wie nach der griechischen Mythologie Juno und Venus sind, denen sie entstammen sollten. In beiden sind die Typen des Erhabenen und des Liebreizes personificirt. Während die Rose eine ganz unwiderstehliche Anziehungskraft ausübt, flößt die ideale Erscheinung der Lilie eine gewisse Zurückhaltung ein, und das Dichterwort:
„Denn eine Würde, eine Höhe,
Entfemte die Vertraulichkeit!"
möchte ganz speeiell auf sie anwendbar sein. Von keiner Erregung betroffen, unbegehrlich des Irdischen steht sie in ihrem blendend weißen Gewande wie ein Kind des Lichts da. - Die wie Der Name entstammt dem Griechischen was einfach, griechischen glatt, eben bezeichnet. Im Lateinischen heißt sie ."Lilium" oder Rosa Iunouis, weil sie der Milch der Juno entsprossen sein soll. Die Sagen differiren; nach einer legte Alkmene, die Mutter des Herkules, welche die Eifersucht der Juno fürchtete, das Kind gleich nach der Geburt unter einen schattigen Busch, um es zu verbergen. Minerva aber den Ursprung des Knäbleins kennend, führte Juno an diesen Ort vorüber und zeigte ihr das kräftig schöne Kind, indem sie selbst es bewunderte — und der Juno in ihrer Eigenschaft als „Beschützerin aller Neugeborenen" vorschlug, den kleinen verschmachteten Säugling an die Brust zu legen. Juno willigte ein, doch das Kind, seine heimliche Feindin erkennend, biß ihr in die Brust, so daß sie ihre Ammenrolle aufgab. Die Milch der Göttin spritzte empor, ein Theil der Tropfen bildete am Himmelsbogen den weißen Streifen, die Milchstraße genannt, jenen Tropfen aber, die zur Erde fielen, entsproßte die weiße Lilie: „Die Rose der Juno", das Symbol der Reinheit und Würde.
Nach anderer Darstellung wollte Jupiter dem Herkules die Unsterblichkeit sichern und gebot dem Somnus einen nectarischen Schlaftrunk für Juno zu bereiten, den er dieser als Labetrunk reichte. Juno versank in tiesen Schlaf, in diesem Zustande legte Jupiter seinen kleinen Liebling an die Brust der Göttin, damit er die Milch trinke, die ihm Unsterblichkeit verlieh. Der kleine Herkules sog so gierig, daß einige Tropfen zur Erde fielen und aus diesen entkeimte die Lilie. So weit die Sage; denn über die Epoche ihrer irdischen Erscheinung ist ein gleiches Dunkel gebreitet, wie über das der Rose und des Getreides. Sie hat wie diese beiden überall ein Heimathsrecht aber keinen speciellen Heimathsschein, wenn auch bevorzugte Gegenden. Homer, Moses, Plinius, Virgil und Andere besingen sie als das Sinnbild der Schönheit und Majestät. In Persien, ihrer angenommenen Heimath, hieß die alte Reichsstadt nach ihr: „Susa" d. h. Lilienstadt, sie führte die Lilie in ihrem Wappen als Symbol der Schönheit. Hasis singt von ihr:
Lilie hat der Zungen Zehne,
Doch es schlagt die Nachtigall,
Und da schweigt sie vor Entzücken,
Und zum Dufte wird ihr Schall!
Unter dem im Alterthum üblichen Blumennamen hieß Susanna— Lilie, man brachte dieselbe auch mit der keuschen Susanna in Verbindung, da sie im Hebräischen: „Shusham" hieß. Nach alten hebräischen Legenden blühte die Lilie im Garten der Verführung und Die «i» sollte an ihrer Reinheit Schaden nehmen, aber sie stand zwischen ihren Agende. Verführern hoch erhaben da, und keine unreine Hand vermochte es, sie zu schädigen. Exodus spricht von der Lilie, als habe sie das Kind Mose verborgen gehalten, denn sie gesellte sich gern dem Schilfe bei. Jedenfalls war das nicht die weiße, sondern die hellgelbe Lilie, die es am heiligen Strom umblühte.
Die weiße Lilie aber zierte nicht nur die Altäre Israels, sondern auch die Stirn Salomonis. Der tyrische Baumeister gab den Säulenkapitälen des hohen Tempels die Form der Lilien. Nach der Vorschrift des Mosis war die Lilie zum Schmuck der Leuchter im Heiligthum des Herrn erwählt; ja selbst Christus setzt die Herrlichkeit und Pracht Salomos der der Lilien nach und tröstet seine Schüler wegen ihrer einfachen Kleidung, die gegen die damals in Palästina üblichen Prunkgewänder sehr abstachen, mit den Worten : „Schauet die Lilien auf dem Felde an, wie herrlich sie prangen, ohne daß sie durch vorhergegangenes Spinnen und Weben eine so prachtvolle Kleidung erst mühsam sich errungen."
In der Bibel wird ihrer Herrlichkeit im Buche der Judith, in dem Propheten Jesaias und den Evangelisten St. Matthaeus und Lucas gedacht. Die Milde und Erhabenheit ihrer Erscheinung, wie sie auf hohem Stengel, ihre 6 bis 8 weißen Blumen gleich Alabasterkelche breitete, denen eine Garbe goldener Staubfäden entsproß, balsamische Düfte aushauchend, mußte Andacht erwecken und konnte überhaupt nicht ge wöhnlichen Ursprungs sein. Daß sie in Aegypten in gleich hoher Achtung stand, sehen wir aus den auf Denkmälern eingegrabenen Hieroglyphen, in denen sie vielfach erscheint und eine besondere Bedeutung hatte; denn neben der Würde, die sie vertrat, galt sie ihnen bald als Sinnbild der Kürze des Lebens, bald als Symbol der Freiheit und Hoffnung.
Bei den Griechen war die himmlische Schönheit durch die Lilie vertreten, die sie, das Haupt halb in Wolken verhüllt, einen Lilienzweig in der einen, einen Compas und eine Kugel in der andern Hand haltend, darstellten. Heute noch symbolisiren Künstler sie durch einen Lilien- und Veilchenkranz; Reinheit und Bescheidenheit sind ihre angeborenen Attribute.
Auch betrachteten sie die Lilie als das Bild einer Jungfrau, die die Eifersucht der Venus erregte, da sie sich mit ihr verglich. Um sie zu strafen, wandelte die Göttin sie in eine Blume, der sie das Herz nahm, so daß sie zur Glocke ward mit goldenem Schwengel. Die Griechinnen, namentlich die Athenienserinnen streuten nicht Rosen, sondern Lilien auf die Gräber ihrer Todten.
Aus: Die Blumen in Sage und Geschichte – Minna von Strantz
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